04/05/2020 – Textilkontinent Europa – Chancen und Risiken, Teil 3
Corona stürzt europäische Textilindustrie in eine tiefe Krise!
Sie sind inzwischen ein Symbol der weltweiten Corona-Katastrophe: Mundschutzmasken. Ob italienische Luxuslabels oder schwäbische Unterwäschehersteller.
Viele haben sich inzwischen in den Dienst der Gemeinschaft gestellt und produzieren Mundschutzmasken oder Schutzausrüstung für Ärzte und Kliniken. Überall in Europa gibt es dabei die gleichen Herausforderungen: den Aufbau neuer Lieferketten, Zertifizierungen und die bange Frage, wie lange der Kampf gegen das Virus dauert.
Ob Italien, Spanien oder Frankreich, ob in Österreich oder in den Fußgänger-Zonen von Hamburg bis München: Die Frühjahrskollektionen, weit vor der Corona-Krise produziert, sind nur durch die Schaufenster der geschlossenen Läden anzuschauen. Und auch die Online-Händler melden wenig Kauflust der durch die Krise verunsicherten Verbraucherinnen und Verbraucher.
Uwe Mazura, Hauptgeschäftsführer der deutschen Textil- und Modeindustrie, erreichen nur noch Hiobsbotschaften aus den Mitgliedsverbänden und Unternehmen:
„Die Lage der Branche ist dramatisch. Vom Bekleidungshersteller, dem Hotelwäschelieferanten bis zum Autozulieferer – manchem Unternehmen ist quasi über Nacht der gesamte Umsatz weggebrochen.“ Unternehmen und Verbände im Krisenmodus rund um die Uhr. Tausendfach wird der Corona-Newsroom des Gesamtverbandes der deutschen Textil- und Modeindustrie angeklickt. Die meisten Interessierten der Webseite kommen aus Nordrhein-Westfalen, gefolgt von Hilfesuchenden aus Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Sachsen. Im Stundentakt gibt es neue Informationen über Hilfspakete und Schutzschirme für Unternehmen: Kurzarbeitergeld, Steuerstundung, KfW-Kreditprogramme; doch selbst eine Bundesregierung im Krisenmodus kann nicht so schnell handeln, wie das Virus die Branche in die Knie zwingt.
„Die Hilfspakete der Bundesregierung, so imposant sie sind, haben einen Haken. Viele haben gar nicht die Kapazität, sich mit einem weiteren Kredit zu verschulden; da der Staat nicht die komplette Haftung für die Corona-Hilfskredite übernimmt, geben uns die Hausbanken die Kredite gar nicht frei,“ schlägt die Präsidentin des Gesamtverbandes textil+mode, Ingeborg Neumann schon kurz nach deren Verabschiedung Alarm und fordert ein milliardenschweres Rettungspaket für die betroffenen mittelständischen Unternehmen, die sich und ihre Nöte in den Hilfsprogrammen nicht wiederfinden.
„Der Milliardensegen der Bundesregierung hilft im Kern unseren Betrieben gar nicht“, sagt auch Peter Haas, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Südwesttextil. Die Programme hörten dort auf, wo der Kern des Mittelstands anfinge, so Haas, bei Unternehmen mit mehr als 50 Mitarbeitern. „Jetzt fallen die Mittelständler in ein Loch!“
Auch Haas bekommt verzweifelte Anrufe von Unternehmen, die kein Geld von ihren Hausbanken bekommen, weil sie die Eigenkapitalvorschriften beachten müssten. Ob Bekleidungshersteller, Hersteller von Hoteltextilien, Autozulieferer, sie alle sind vom Shutdown betroffen. Maschinen stehen still, die Unternehmen sitzen auf ihrer Ware, haben keine Einnahmen, die Kosten laufen weiter, Mitarbeiter werden nachhause geschickt, Kurzarbeitergeld beantragt.
Martina Bandte, Co-Geschäftsführerin der Karl Conzelmann GmbH in Albstadt in Baden-Württemberg, sieht in den KfW-Krediten aus dem Rettungsschirm der Bundesregierung keine wirkliche Hilfe. Die Herstellerin von Damenwäsche, die auch Präsidentin des Fachverbandes Gesamtmasche ist, hat neben dem komplett zusammengebrochenen Absatz auch Probleme mit den Lieferketten. Ihre Materialien kommen aus Italien, Frankreich, Österreich und der Türkei. Vieles davon ist weggebrochen. Auch die Konfektion in Portugal steht vor der Schließung sowie ein Werk in Rumänien. So wie viele versucht auch sie, Arbeit für ihre 120 Mitarbeiter in Albstadt zu organisieren. Jetzt werden auch bei Conzelmann Mundschutzmasken genäht.
Bleischwer liegen die bereits genähten Kollektionen in den Lagerhallen. Fast in ganz Europa mussten die Geschäfte schließen, liegt das öffentliche Leben lahm. So wie die Händler bleiben auch die Hersteller auf ihrer Ware sitzen. Ein Nachholgeschäft ist angesichts der Verunsicherung der Menschen so bald nicht zu erwarten. An Mode wird gespart in Krisenzeiten, das wird auch diesmal nicht viel anders sein.
Das erlebt in besonderer Weise auch das Modeland Italien, in dem das Virus so mörderisch seine Schneisen zieht. Als Symbol der Solidarität nähen Krawattenhersteller Mundschutzmasken. Am 18. März veröffentlicht die italienische Regierung ein Gesetzesdekret, um neben medizinisch zertifizierten Atemmasken Schutzmasken zum privaten Gebrauch für die Bevölkerung zuzulassen. Der italienische Modeverband Sistema Mode Italia (SMI) gibt seinen Bekleidungsunternehmen Mindeststandard-Empfehlungen, an denen sie sich orientieren können. Auch beim Gesamtverband textil+mode werden Leitlinien für die Produktion von Atemschutzmasken erarbeitet und für die Unternehmen alle wichtigen Informationen zu DIN-Normen und Zertifizierungsbestimmungen zusammengestellt. Bei gut einem Fünftel der 350 Mitgliedsunternehmen von German Fashion ist bereits vor Ostern die Produktion von Mundschutzmasken oder Schutzausrüstung angelaufen und es werden von Woche zu Woche mehr.
Der Verband der nordwestdeutschen Textil- und Bekleidungsindustrie hat schnell und unkompliziert eine Facebook-Gruppe gegründet. Hauptgeschäftsführer Walter Erasmy weiß um den Service, den seine Mitglieder jetzt brauchen: „Interessierte Unternehmen können dort beitreten und ihre Angebote einstellen. Ziel ist es, dass Unternehmen hier zusammenfinden. Wir wollen aber auch auf der Nachfrageseite, bei Krankenhäusern, Ärzten, Pflegeheimen auf die Angebote aufmerksam machen, so dass wir sogar bei der Vermarktung hilfreich sein können.“
Die Umsatzeinbrüche sind mit der Produktion von Schutzkleidung nicht auszugleichen, trotzdem beteiligen sich immer mehr an einer beispiellosen Hilfsaktion, um als Textilindustrie einen Beitrag in der schwersten Gesundheitskrise, die Europa in der jüngeren Geschichte zu meistern hat, zu leisten. Ein Autozulieferer und ein Vliesstoffhersteller bekommen bereits Mitte März den ersten Auftrag des Freistaates Bayern für Schutzkleidung und Mundschutzmasken. „Nachdem die Lieferketten nach Asien ausgefallen sind, haben sich unsere Unternehmen in einem Kraftakt neue Lieferketten für die Herstellung von Schutzkleidung aufgebaut“, sagt Uwe Mazura, der bereits in der Krise viel über die Zeit nach Corona nachdenkt. „Die Corona-Krise zeigt uns mit ihrer ganzen Wucht, wie wichtig eine eigene Industrie hier in Europa ist. Die Frage ist nur, ob unsere Betriebe die wirtschaftlichen Folgen überhaupt überstehen. Die Rettung und die Bedeutung unserer Industrie sind deshalb nicht nur ein Gebot der Stunde, sondern werden uns in jedem Fall eine historische Lehre aus dieser globalen Gesundheitskrise sein.“
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