23/06/2021 – Smart Textiles - nicht nur zur Rehabilitation

Cynteract: Handschuh zum Be-Greifen

Ein Startup aus Aachen bringt mit seinem Sensor-Handschuh gleich drei Anwendungsfelder in Bewegung: Rehabilitation, Industrie 4.0 und VR/Gaming.

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Erneut für ihre Innovation geehrt: Gründerduo Gernot Sümmermann und Manuel Wessely häufen inzwischen Preise und Auszeichnungen an. © Cynteract

 
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Elegant verpackt und designt: Der Handschuh könnte die Rehabilitation revolutionieren © Cynteract

 
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Die smarttextile Innovation ermöglicht an der Schnittstelle Mensch/Maschine bzw. Mensch/Spielesoftware/Spielkonsole Interaktionen in und aus virtuellen Welten; im Rehabilitationseinsatz nach chirurgischen Eingriffen oder neuronalen (Unfall)schäden sogar mit Spaßfaktor.

  • Der Handschuh als zweite Handhaut wiegt nur 60 Gramm, ist entlang jedes Fingerglieds mit Sensoren bestückt und kostet in einer ersten Kleinserie unter 500 Euro.
  • Das Produkt als Symbiose aus Textil und Elektronik erleichtert im wahrsten Wortsinn das Handling dort, wo Menschen arbeiten und Maschinen oder Roboter steuern, spielend in virtuelle Welten eintauchen oder den intelligenten Handschuh zum Wiedererwerb von unfall- oder krankheitsbedingten Beeinträchtigungen an Hand, Arm oder Finger einsetzen: Ein Handschuh zum Be-Greifen der virtuellen Welt.

Das Produkt ist für die Verwendung mit einem elektronischen Endgerät, z. B. einem Smartphone, Tablet oder Laptop vorgesehen. Dort werden Spiele dargestellt, die über die Finger-/Hand-/Armbewegungen oder Kräfte gesteuert werden. Auf diese Weise kann mit dem Handschuh ein beliebiger Charakter in einer virtuellen Welt gesteuert werden. (Auszug aus der Medizinprodukt-Zulassung 2020)

Faust ballen löst Kanonenschuss aus

Ein Schlaganfall-Dilemma im Freundeskreis – und damit beginnt die Story des Startups Cynteract (Cyber Interaction) 2014 – hatte das spätere Gründerduo Gernot Sümmermann und Manuel Wessely bei „Jugend forscht“ zusammengeführt: Sie wollten helfen und kreierten als Maschinenbau- bzw. Softwarespezialisten vollkommen unabhängig von ähnlichen Entwicklungen beispielsweise im Greizer Textilforschungsinstitut TITV einen ziemlich besonderen Therapiehandschuh mit motorischer Unterstützung. Besonders deshalb, weil er in Kombination mit Computerspielen müde und faule Rehabilitanden anspornt und die fleißigen wie den nach einem Badeunfall querschnittsgelähmten Luca (17) mit Unterhaltungsfaktor und Ehrgeiz zuhause dazu bringt, noch mehr zu tun, als nur die zuvor öden und zeitraubenden Übungsvorgaben abzuarbeiten.

Unternehmen auf einen Blick:

  • Gründung: 2016
  • Gründer: CEO Gernot Sümmermann (23), Manuel Wessely (24)
  • Mitarbeiter: 4
  • Alleinstellung: Entwicklung und Produktion von sensorgesteuerten Handschuhen, der die Rehabilitation durch motivierende Spielesteuerung revolutioniert und zugleich im industriellen Einsatz auch viel Potenzial an der Schnittstelle Mensch/Maschine hat.
  • www.cynteract.com

Die Schlüsselworte dafür sind Spielesteuerung beispielsweise durch das Strecken und Beugen von Fingern sowie Spaß und Motivation. Weil die Rehabilitation von oberen Gliedmaßen nicht ohne Bewegungsübungen auskommt, hat Cynteract diese Vorgaben in eigene Spiele eingebaut, die zu Wiederholen von Bewegungsmustern geradezu anstacheln. Das Prinzip dahinter: Kann ich meine Hand oder den/die Finger so anheben, dass damit eine virtuelle Kugel über das nächste Hindernis rollt – um eine der einfachsten Übungen zu nennen. Oder: Wenn ich die Hand ganz schließe, wird eine Kanonenkugel abgefeuert...

Auch Starinvestor Frank Thelen zeigte sich von dem Steuerungs- und Messhandschuh beeindruckt und sprach von der „Gamification der Reha“. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn würdigte die Innovationen mit den Worten: „Ein starkes Produkt, welches vielen Menschen helfen kann.“ Der Chefarzt Handchirurgie am BG-Klinikum Duisburg, Prof. Hans-Herbert Homann, geht in seiner Einschätzung sogar noch weiter: „Ich glaube, dass wir hier eine ganz neue Ebene der Rehabilitation nach Handverletzungen, aber vielleicht auch nach anderen Erkrankungen betreten“, sagte der Spezialist in einem WDR-Interview.

Gesundheitsfortschritte mit Übungsspaß

Zurück zu Luca Müller, der den Gaming-Handschuh für die Bewegungstherapie nutzt. „Für mich ist das Training mit diesem Handschuh sehr motivierend; es macht viel mehr Spaß“, so der 17-Jährige in einem MDR-Beitrag. Das neue Weltraumspiel von Cynteract, das noch mehr Fingerfertigkeit und Reaktionsschnelligkeit erfordert, bewertet er als „echt cool“. Sümmermann: „Durch Spaß zur Gesundheit. Über die noch kostenlose Software (später als Abomodell) können verschiedene Spiele gestartet werden. Gleichzeitig ist auch der Trainingserfolg ablesbar: Diese Daten können Ärzte und Therapeuten für weitere Therapieschritte nutzen.“ Weil Medien immer häufiger die Erfolgsgeschichte von Cynteract aufgreifen, kann sich das Gründerduo kaum noch vor Anfragen retten. Einer ersten 50er-Kleinserie 2020 folgte unmittelbar die Pilotproduktion von 100 Handschuhen, verrät Sümmermann, der mittlerweile drei Startups mitzuverantworten hat.

  • Seit acht Jahren arbeiten die beiden RWTH-Studenten an der Technologie, um Menschen den Zugang zur Rehabilitation zu erleichtern.
  • Sie kommt unter anderem in einem Projekt in Ruanda zum Einsatz, das eine digitale und dezentrale Rehabilitation ermöglicht.
  • Inzwischen führen erste Krankenhäuser wie das an der Uniklinikum Aachen und das BG-Klinikum Duisburg Studien durch.
  • Gehen die positiv aus, kann der intelligente Handschuh ggf. auf eine Krankenkassen-Zulassung und damit im Einsatzfall auf eine teilweise Kostenübernahme durch die Kassen hoffen.

Dass die Gründer ihr smarttextiles Produkt währenddessen weiter optimieren und zu diesem Zweck unter anderen mit den Spezialisten des Aachener Instituts für Textiltechnik (ITA) zusammenarbeiten, versteht sich eigentlich von selbst.

Produktdiversifikation in Planung

Bald soll der magische Handschuh auch in virtueller Realität zu intuitiver Interaktion eingesetzt werden, um virtuelle Objekte für den Träger realistisch fühlbar zu machen. Zudem kann er als „barrierefreier Controller“ ohne Feinmotorik zum Spielen eingesetzt werden. Steigen Investoren in das Startup ein, wollen die Gründer nicht nur personell aufsatteln, sondern das Handschuhprinzip bestehend aus intelligenter Sensorik und virtuellen Übungsanreizen mit Produkten für Arme, Beine, Schultern und einzelne Muskelgruppen ergänzen.

Mit Blick auf reine VR-Anwendungen rund um die 4.0-Problematik und für die Gamerszene hat Cynteract bereits eine Sensorhaut für den ganzen Körper geplant, mit dem der Nutzer später beispielweise durch Gesten Maschinen steuern oder die Impulse aus der virtuellen Realität fühlen kann. Ein weiteres Einsatzfeld wird gerade gemeinsam mit dem Sozialwerk Aachener Christen mit der Ausbildung von Lagerlogistikern erschlossen. Das Projekt verbindet innovativen Zukunftstechnologien mit der Berufsausbildung. Dafür entwickelt Cynteract die VR-Software, damit die Azubis künftig den Handschuh zur Interaktion nutzen können.