13.02.23 – Interview mit Projektleiter Kalayu Gebru von Solidaridad

„Äthiopien ist und bleibt ein interessanter Standort für die Textilbeschaffung“

Die internationale Netzwerkorganisation Solidaridad möchte Nachhaltigkeit entlang der gesamten Lieferkette zur Norm machen. Im Bereich Textil ist sie u. a. in Südamerika, Afrika und Asien tätig. Solidaridad setzt sich dafür ein, dass Bauern und Arbeiter unter menschenwürdigen Bedingungen arbeiten können, ein angemessenes Gehalt bekommen und im Einklang mit der Natur umweltfreundlich produzieren – so auch im aufsteigenden Textilproduktionsland Äthiopien.

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Kalayu Gebru, Experte für nachhaltige Bekleidungsproduktion, ist Projektleiter des „Bottom-Up!“-Projekts in Äthiopien und führt die Schulungen für Manager in den Bekleidungsfabriken durch. © Solidaridad

 
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„Bottom Up!“ zeigt, dass es möglich ist, Nachhaltigkeit von Anfang an in der gesamten Baumwoll- und Textillieferkette umzusetzen. © Solidaridad

 
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Äthiopien ist mit seiner wachsenden und jungen Bevölkerung und einem großen Textilsektor ein wichtiger Schlüsselmarkt. Im Rahmen des Projekts „Bottom Up!“ versucht Solidaridad, in dem Land eine nachhaltige, inklusive und transparente Wertschöpfungskette vom Baumwollanbau bis zum textilen Endprodukt aufzubauen. textile network sprach mit Projektleiter Kalayu Gebru über die Herausforderungen beim Aufbau einer nachhaltigen Textillieferkette in Äthiopien sowie erste Erfolge des Projektes und weitere mögliche Lösungsansätze.

textile network: Wie schätzen Sie den Stand der Nachhaltigkeit in der Textilindustrie in Äthiopien ein? Was ist in den letzten Jahren besser geworden und woran muss das Land noch arbeiten?

Kalayu Gebru: Die äthiopische Regierung will Äthiopien bis 2025 zum Zentrum der Textil- und Bekleidungsherstellung in Afrika mit jährlichen Exporten in Höhe von 30 Mrd. US-Dollar machen. In diesem Zusammenhang hat die äthiopische Regierung die „National Cotton Development Strategy (NCDS)“ ins Leben gerufen, einen ehrgeizigen 15-Jahres-Plan (2018–2032), der darauf abzielt, die Baumwollproduktion auf 1,1 Mio. Tonnen auf einer Million Hektar für den Baumwollanbau geeigneter Fläche zu steigern.

Um dieses Ziel zu erreichen, hat die Regierung in den Zehnerjahren damit begonnen, Öko-Industrieparks wie Hawassa zu bauen. Das Vorzeigeprojekt diente daraufhin als Vorzeigebeispiel für den Bau weiterer Parks. Um diese Parks mit Energie zu versorgen, setzt die Regierung auf Strom aus Wasserkraft, Windkraft und Geothermie.

Das Ziel von Solidaridad ist es, die Regierung beim Aufbau dieser nachhaltigen Textilproduktion zu unterstützen. Mit unserer Hilfe wurden z. B. Branchentreffen zwischen Textilfabriken, Baumwollfarmen und Bauern durchgeführt, was dazu führte, dass 50 % der Textilfabriken nach internationalen Sozialstandards (BSCI/WRAP) zertifiziert wurden.

Solidaridad schult und unterstützt zudem die Landwirte, beim Baumwollanbau weniger Pestizide, synthetischen Dünger und Wasser zu verwenden und menschenwürdige Arbeitsbedingungen einzuhalten. Wir arbeiten mit verschiedenen Stakeholdern innerhalb des Sektors zusammen, um den Bauern zu ermöglichen, Baumwolle nachhaltig zu produzieren und zu verkaufen.

textile network: Welche praktischen Herausforderungen sind damit verbunden, eine nachhaltige Textillieferkette innerhalb eines Landes aufzubauen, speziell auch in Äthiopien? Was sind Ihre Erfahrungen?

Kalayu Gebru: Der Fall Äthiopien zeigt, welche Chancen die grüne Industrialisierung für Länder mit niedrigem Einkommen bietet, die sich noch in der Frühphase der Industrialisierung befinden. Der Fall zeigt aber auch, vor welchen Herausforderungen solche Länder stehen.

Die praktischen Herausforderungen, die uns in Äthiopien begegnen, sind das mangelnde Bewusstsein der meisten Beteiligten für die Bedeutung von Nachhaltigkeitsthemen, der Zugang zu Finanzinstituten (langfristige Kredite zu niedrigen Zinssätzen) und zu internationalen Märkten (Textilfabriken). Die Textilunternehmen benötigen Devisen, mit denen sie z. B. ECO-Chemikalien, Ersatzteile und andere Betriebsmittel aus dem Ausland importieren können. Vielen Mitarbeitenden und Managern mangelt es jedoch an Kontakten zum internationalen Markt und an professionellen Kommunikationsfähigkeiten.

textile network: Besonders attraktiv für Investoren sind die extremen Billiglöhne in Äthiopien. Wie steuert Solidaridad gegen die Ausbeutung von Arbeitern?

Kalayu Gebru: Etwa 80 % der Textilarbeiter weltweit sind weiblich. Diese Frauen sind besonders häufig mit Diskriminierung, unsicheren Arbeitsverhältnissen und niedriger Bezahlung konfrontiert. Da setzen wir mit unseren Programmen „Gender and Soft Skills“ sowie „Women Transformational Leadership“ an. Darin schulen wir die Frauen in Arbeitsrecht, Finanzen und Gesundheit. Gleichzeitig liegt ein Fokus auf der Stärkung des Selbstwertgefühls und der persönlichen Entwicklung. Die Frauen erlernen Führungsqualitäten und werden in zwischenmenschlicher Kommunikation, Teambildung, Coaching und effektiver Verhandlung geschult. Mit Erfolg: Erste Teilnehmerinnen haben bereits begonnen, sich in Gewerkschaften zu organisieren.

Unser übergeordnetes Ziel – menschenwürdige Arbeitsplätze für Männer und Frauen in der äthiopischen Textilindustrie – wollen wir erreichen, indem wir das Bewusstsein unter Fabrikmanagern und Gewerkschaftsführern für die Gleichstellung der Geschlechter und geschlechtsspezifische Probleme schärfen.

Darüber hinaus arbeiten wir aktuell gemeinsam mit Arbeitnehmergewerkschaften, Regierungsbehörden und Arbeitgeberverbänden daran, einen Konsens über einen Mindestlohn auf die Beine zu stellen. Ein erster Entwurf wurde dem Ministerium bereits vorgelegt und wird derzeit überprüft.

textile network: Häufig wird bemängelt, dass ein Großteil der Materialien und Zutaten noch immer importiert werden muss. Abhilfe schaffen könnte das Recycling der enormen Mengen an Textilabfall im Land. Damit könnte eine nachhaltige Lieferkette entstehen, die deutlich weniger Importe verlangt. Sehen Sie das genauso? Und gibt es noch weitere Möglichkeiten, um die Importrate zu verringern und die Lieferwege kürzer zu machen?

Kalayu Gebru: Das Recycling von Textilabfällen ist eine gute Möglichkeit für das Land, nicht nur nachhaltiger zu werden, sondern auch die Produktion anzukurbeln. Es gibt bereits einige Fabriken in Äthiopien, die Abfälle zu wertvollen Produkten recyceln, doch diese Textilfabriken sind nicht in ausreichender Anzahl vorhanden, im Vergleich zu den Abfallmengen, die im Land erzeugt werden.

Wir sehen eine Lösung darin, dass so viele kleine und mittlere Unternehmen wie möglich gegründet werden, damit Materialien wie recycelte Baumwolle, Polyester, Zubehör, Verpackungen, Zierleisten, Ersatzteile und einige Ausrüstungsgegenstände selbst hergestellt werden können, anstatt sie aus dem Ausland zu importieren. Auf diese Weise könnten die Vorlaufzeiten und die Preise gesenkt werden, was der Textilindustrie einen Wettbewerbsvorteil verschaffen würde.

textile network: Wie Sie bereits erwähnt haben, möchte die äthiopische Regierung das Land zum Zentrum von Afrikas Textilproduktion machen. Doch Äthiopien hat mit den Auswirkungen von Corona zu kämpfen, zeitweise stand die Textilproduktion fast komplett still. Hinzu kommen die politischen Unruhen in der Tigray-Region, bei denen u. a. auch Textilfabriken zerstört wurden, und die viele Unternehmen vor weiteren Investitionen abschrecken. Wie sehen Sie dahingehend die Entwicklung? Kann Äthiopien trotz dieser Rückschläge noch zum Nummer-1-Textilproduktionsland werden?

Kalayu Gebru: Äthiopiens Wachstumsziele sind ehrgeizig. Die Baumwoll- und Bekleidungsindustrie ist der zweitwichtigste Wachstumssektor für die äthiopische Regierung.

Das Projekt Bottom UP! wurde von der EU, den Bottom UP! Projektpartnern (Solidaridad, MVO Niederlande, Etisk Handel Dänemark) und angeschlossenen Interessenvertretern ins Leben gerufen, um das Defizit an nachhaltiger Baumwoll- und Bekleidungsproduktion für den Exportmarkt auszugleichen. Einer der größten Rückschläge für das Projekt war die politische Instabilität, die im vergangenen Jahr zu einem bewaffneten Konflikt in den Regionen Tigray und Amhara führte. Die Projektpartner waren – und sind es immer noch – tief besorgt über den Konflikt in Äthiopien und seine Auswirkungen auf die Bürger. Diese ernste humanitäre Lage hat dazu geführt, dass mehrere Einsatzorte des Programms in weniger gefährdete Gebiete verlegt wurden und mehrere Partner aus verschiedenen Gründen ihr Engagement nicht fortsetzen konnten.

Wir hoffen, dass der im November 2022 geschlossene Friedensvertrag dazu führt, dass die internationale Gemeinschaft, die Weltbank und andere wichtige globale Player wieder damit beginnen, in Äthiopien zu investieren. Äthiopien ist und bleibt auf Grund seiner grünen Industriepolitik und seiner jungen Bevölkerung ein interessanter Standort für Investitionen sowie für die Textilbeschaffung.