26.01.22 – Interview mit Holger Max-Lang – Teil 1
Lectra-Strategie: Offenes Ökosystem entwickeln
Welche Potentiale ergeben sich aus der Übernahme von Gerber Technology? Wie sieht die Zukunftsstrategie des französischen CAD-Spezialisten Lectra insgesamt aus? Holger Max-Lang stellt sich im Gespräch mit Yvonne Heinen-Foudeh den Fragen von textile network.
Rund 200 Tage nachdem die Akquisition von Gerber Technology durch die französische Aktiengesellschaft Lectra S.A abgeschlossen werden konnte, gewährte Holger Max-Lang, Präsident Nord- und Osteuropa Europa bei Lectra, unserer Korrespondentin Yvonne Heinen-Foudeh das vorgeschlagene Interview. Vorrangiges Thema: die Zukunftsstrategie des nun unbestrittenen Weltmarktführers bei Computer/IT-gestützten Automatisierungslösungen für die Verarbeitung flexibler Materialien nach dem großen Coup.
textile network: Was bedeutet die Übernahme von Gerber Technology für Ihr Kerngeschäft?
Holger Max-Lang: Die Übernahme von Gerber Technology führt zur Schaffung eines führenden globalen Industrie-4.0-Unternehmens für die Mode-, Automobil- und Möbelmärkte. Mit dieser Übernahme erreichen wir eine weltweite Marktabdeckung. So nutzen wir unsere beträchtlichen Investitionen in Forschung und Entwicklung, erweitern die Basis unserer treuen Kunden und können unsere Position auf dem US-amerikanischen Modemarkt verbessern, die jetzt weitaus stärker ist. Auch unsere Präsenz in China wird mit der Übernahme gestärkt. Darüber hinaus bringt diese uns erhebliche Mengeneffekte. So werden wir weiterhin etwa 12 % unseres Umsatzes in Forschung und Entwicklung investieren, was etwa 500 Mio. Dollar entspricht. Dieses Programm wird es uns ermöglichen, nur einmal für beide Marken zu entwickeln, und eine Kapazität, um in den kommenden Jahren viele Innovationen zu liefern und unsere Kunden in Richtung technologischer Lösungen für die Industrie 4.0 zu begleiten.
Auf dem Weg zu Industrie-4.0-Lösungen, in den letzten Jahren ein Schwerpunkt von Lectra, ist es unser Ziel, die besten Praktiken und das Know-how beider Unternehmen zu nutzen und die nächste Generation von Angeboten für Industrie 4.0 zu schaffen. In den vergangenen Jahren hat Gerber Technology stark in Forschung und Entwicklung investiert, um ein ähnliches Investitionsniveau wie Lectra in diesem Bereich zu erreichen. Mehr denn je ist es unser Ziel, ein unverzichtbarer Partner für Industrie 4.0 zu werden. Mit Gerber hoffen wir, zu beweisen, dass 1 + 1 = 3 und mehr ist.
Wenn die Integration vollständig abgeschlossen ist, können wir unsere Marktpräsenz erhöhen und Produkte anbieten, die alle technologisch fortschrittlichen Merkmale enthalten, die das Highlight beider Unternehmen waren. Durch die Synergie wird Lectra auch in der Lage sein, Markt- und Demographie-spezifische Produkte zu lancieren. Die wiederum ermöglichen es den Kunden, die Produktivität und Rentabilität ihrer Betriebe zu steigern.
textile network: Hat Lectra Pläne, in naher Zukunft weitere Unternehmen zu übernehmen?
Holger Max-Lang: Die Strategie von Lectra besteht darin, Präsenz und Wertangebot in den sektoralen Märkten Mode, Automobil und Möbel zu verbessern. Kürzlich haben wir Gemini CAD Systems übernommen, zur Ergänzung des Software-Angebots. Dies wird es uns ermöglichen, neue bahnbrechende Innovationen in der Modebranche einzuführen.
Zu Beginn des Sommers 2021 gaben wir außerdem die Übernahme des französischen Unternehmens Neteven bekannt, das eine innovative SaaS-basierte Plattform und damit verbundene Dienstleistungen anbietet, die es Marken ermöglichen, den Vertrieb ihrer Produkte auf den weltweit größten Marktplätzen zu vereinfachen und zu kontrollieren. Dies spart den Kunden Zeit bei der Verwaltung ihrer Vertriebskanäle und verschafft ihren Produkten eine größere Visibilität, sowohl lokal als auch international, um mehr Verbraucher zu erreichen. Wir verfügen nicht nur über eine externe Wachstumsstrategie. Vielmehr müssen wir, um in der Industrie 4.0 präsent zu sein, auch selbst Prozesse entwickeln, die wir intern nicht unbedingt haben. Wir beschleunigen auch die Entwicklung von Partnerschaften, wie die mit Microsoft, die wir kürzlich angekündigt haben. Unsere Strategie für Industrie 4.0 basiert auf der Entwicklung eines Ökosystems und offenen Lösungen, die mit anderer Software in der Branche kommunizieren können.
textile network: Was ist das ultimative Ziel von Lectra, sowohl kurzfristig (in den nächsten fünf Jahren) als auch langfristig (in zehn Jahren und darüber hinaus)?
Holger Max-Lang: Die Lectra 4.0-Strategie wurde 2017 mit dem Ziel ins Leben gerufen, das Unternehmen bis 2030 (langfristige Vision) als einen wichtigen Akteur der Industrie 4.0 in seinen Märkten zu positionieren. Sie wurde bis heute durch zwei aufeinander folgende strategische Roadmaps umgesetzt. In der ersten Roadmap für den Zeitraum 2017 bis 2019 wurden die wichtigsten Grundlagen für die Zukunft der Gruppe festgelegt. Dazu gehörten die erfolgreiche Integration der neuen Schlüsseltechnologien für Industrie 4.0 (Cloud Computing, Internet der Dinge, Big Data und künstliche Intelligenz) in die aktualisierten Angebote, die Stärkung der Konzernleitung, die Reorganisation der Tochtergesellschaften in vier Hauptregionen und die Einführung der ersten Software-Angebote im SaaS-Modus.
Der zweite Strategiefahrplan für die Jahre 2020 bis 2022 wird Lectra in die Lage versetzen, das volle Potenzial seiner neuen Angebote für Industrie 4.0 auszuschöpfen und gleichzeitig ein nachhaltiges, profitables Unternehmenswachstum zu erzielen. Trotz der Folgen der Wirtschaftskrise, die durch die Covid-19-Pandemie verursacht wurde, bleiben die meisten Ziele der strategischen Roadmap 2020–2022 unverändert, insbesondere die Beschleunigung in Richtung Industrie 4.0. Die einzigen Anpassungen an die ursprünglichen Ziele betreffen die Wachstumsziele oder das Ende des Dreijahreszeitraums – insbesondere nach der Übernahme des Unternehmens Gerber Technology. Das markiert einen historischen Wendepunkt für Lectra. Während sich die Angebote weiterentwickeln, werden wir an der schrittweisen Vereinheitlichung der Produkte arbeiten. Dies wird mehrere Jahre dauern, da es neue Produktgenerationen geben wird. Wir werden uns die nötige Zeit nehmen, um die besten Technologien und das Fachwissen beider Unternehmen zu kombinieren, damit unsere künftigen Angebote den Kunden einen noch größeren Mehrwert bieten. Das ultimative Ziel ist die Positionierung von Lectra als ein wichtiger Akteur der Industrie 4.0 in seinen Märkten vor 2030.
Im zweiten Teil des Interviews spricht Holger Max-Lang über die Herausforderungen, denen Lectra und die Bekleidungsbranche aktuell gegenüberstehen, und wie mit ihnen aus seiner Sicht umzugehen ist.