15.09.20 – Lautsprecher im Hemd, Sprengstoff-Schnüffler in der Hand
SmartTex-Netzwerk will europäischer Dienstleister werden
Kaum ein Wertschöpfungsverbund in der Textilbranche besteht länger, ist internationaler als das SmartTex-Netzwerk. Ein Interview mit dem Netzwerk-Gründer.
Vom Freistaat Thüringen gefördert, begleitet das Netzwerk inzwischen schon seit einem Jahrzehnt Produktideen rund um die potenzialstarke Materialklasse Textilelektronik in die Märkte. Nun will das Netzwerk einen Schritt weiter gehen und europaweit agieren. Hierzu sprach textile network mit dem Netzwerk-Gründer Klaus Richter.
textile network: Herr Richter, seit vielen Jahren ist nun schon von Intelligenten Textilien die Rede, doch Anwendungen lassen immer noch auf sich warten. Warum?
Klaus Richter: Heizende Sportbekleidung wie die unseres Netzwerkmitglieds WarmX aus Apolda, Streulicht auf Jacken oder textile Sensorfäden für die Reha sind längst am Markt angekommen. Sie haben aber kaum Schlagzeilenpotenzial. Wesentlich spannender im Sinne von Innovations-Ermöglicher sind Smart Textiles für Industrieanwendungen beispielsweise an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine oder zur Überwachung von Bauteilen. In wenigen Jahren wird es flexible organische Textil-Solarzellen mit einem Wirkungsgrad von gut fünf Prozent „Made in Mitteldeutschland“ geben, an denen wir gerade mitarbeiten. Damit könnten auf Markisen, Fassaden, Stadiondächern usw. Strom gewonnen werden.
textile network: Ihr Netzwerk knüpft von Thüringen aus bis in die Niederlande und Slowenien hinein die Fäden. Mit welchem Ziel?
Klaus Richter: Wir entwickeln gemeinsam mit der Wissenschaft Textilmaterialien zur Unterstützung technischer Anwendungen sowie textile Lösungen für Elektronik, Bio-Sensorik, Life Science, Energie und Automotive.
Das Netzwerk ist kein Lobbyverband, sondern ein wertschöpfungsorientierter Zusammenschluss von Mittelständlern und Wissenschaftseinrichtungen aus Textil, Materialwissenschaft und Elektronik mit internationaler Ausrichtung.
65 Mitglieder aus sieben europäischen Ländern setzen für den Umsatz von morgen Produktideen gemeinsam um.
Mit solchen Innovationen wird der Mittelstand weniger anfällig gegenüber der Konkurrenz beispielsweise aus Asien.
Seit unserem Bestehen haben wir zahlreiche marktbezogene Produkte angeschoben: Die oben genannte textile Solarzelle, thermoelektrische Textilien, aktorische Systeme, textilsensorische Herzsignalerfassung, Kompressionsmaterialien, funktionale Oberflächen wie Antifouling-Basaltgestricke und vieles andere mehr.
textile network: Können Sie etwas zu den aktuellen Projekten in Ihrem Netzwerk sagen?
Klaus Richter: Einer unserer Themenschwerpunkte richtet sich beispielsweise auf die Entwicklung bedarfsgerechter innovativer Assistenzsysteme für Menschen mit Handicaps. Dabei geht es u. a. um Bekleidung mit Sensoren bzw. Aktoren, Textilien mit Memofunktion, die bei motorischen Störungen die Greiffunktion unterstützen, oder auch um die Klimatisierung von Rollstühlen und Handschuhen. Ich greife mal zwei Vorhaben heraus, an denen auch meine Firma Intelligente Textile Produkte GmbH (ITP) mitarbeitet: den textilen Lautsprecher und ein intelligentes Wischtuch für die Rauschgift- oder Sprengstoffdetektion für den Zoll.
Der flexible Stereo-Lautsprecher kann beispielsweise Freizeithemden oder Berufsbekleidung zum Sprechen bringen (Sprach- oder Musikausgabe für Handys) oder – eingebaut im Dachhimmel von PKW – sitzplatzbezogene Informationen nur für den Fahrer ermöglichen.
Im zweiten Projekt soll Textilelektronik Nanometer-große Partikel von verbotenen Substanzen aufspüren und in Echtzeit einen Computer melden. Das erspart beispielsweise bei Fluggast-Zugangskontrollen bei Abstrichproben mit einem Spezialtuch, das dann im Labor nebenan ausgewertet wird, lästige Warterei für den Fluggast und die Beamten.
textile network: Deutschland forscht und entwickelt, und doch kommen gefühlt wesentlich mehr Innovationen aus den USA und Asien. Warum sind andere Länder oftmals mit Produktion und Verkauf einfach schneller als wir?
Klaus Richter: In der Tat ist Deutschland seit über 20 Jahren forschungs- und entwicklungsseitig mit dem Großthema Smart Textiles befasst; wir gehören damit weltweit zu den Pionieren.
Doch wir verlieren oft nach dem Prototypstadium an Tempo; genau hier sind andere schneller!
Die Grundideen sind zumeist hervorragend, doch der technische Bereich als unser potenzieller Hauptabnehmer vertraut oft lieber auf konventionelle Lösungen. Mit anderen Worten: Es fehlen entsprechende Anreizsysteme, um schnell und schlagkräftig entsprechende Produkte in die Märkte zu bringen.
textile network: Uns alle hat Covid-19 im Griff. Was bedeutet die Pandemie für Ihr Netzwerk?
Klaus Richter: Gleich zu Beginn der Krise konnten wir zeigen, was wir eigentlich wollen: Unsere Kapazitäten bündeln für neue Produkte. In diesem Fall waren das zwar „nur“ Mund- und Nasenschutzmasken, deren Produktions- und Zulieferkette wir nach Konzept mit Power und Flexibilität binnen weniger Wochen organisiert haben. Bei dem Herstellerzusammenschluss musste auch die Expertise anderer Branchen mit ins Boot geholt werden, so für den 3D-Druck für Ventile oder für die antimikrobielle Beschichtung der Stoffe. Bei Bedarf könnten wir bei einer nächsten Welle dieses Netzwerk binnen Stunden wieder aktivieren ...
textile network: Und nun wollen Sie auf europäischer Ebene ein Dienstleistungssytem aufbauen. Warum?
Klaus Richter: Wir haben festgestellt, dass wir in Europa Aberdutzende „Könige in der Nische“ haben, also Firmen und Einrichtung mit enormer Tiefenkompetenz und Spezialisierung. Da Zeit bekanntlich Geld ist und wir mit Smart Textiles unter internationalem Wettbewerbsdruck stehen, wollen wir als Angebot auf der Europaebene ein Dienstleistungssystem aufbauen, um den Firmen für die Produktion von großen Stückzahlen Know-how und Technik zur Verfügung stellen zu können. Das scheint mir ein logischer Schritt zu sein, um aus unserem Netzwerk, die in Phase eins vor allem Wissens- und Erfahrungsplattform für kooperativen Erfolg war, im nächsten Zeitabschnitt tatkräftiger zur beschleunigten Entwicklung von Innovationen beizutragen.
textile network: Wann wird die zunächst für dieses Jahr geplante Smart Textiles-Konferenz stattfinden?
Klaus Richter: Die im April ausgefallene erste internationale Smart Textiles-Konferenz InMotion2021 findet nun voraussichtlich vom 13. bis 14. April 2021 in Weimar statt.
Herr Richter, vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen für textile network stellte Hans Werner Oertel.