28.01.15 — read English version
Via Internet zu optimaler Passform
Digitale Mode ist eine Herausforderung und die europäische Antwort auf die textile Fernost-Massenproduktion. Sie soll klassischer Bekleidung „Made in Germany“ einen Schub verleihen und Millionen wegen spezieller Ansprüche vom Markt bislang übergangene Kunden erreichen.
Mit Fashion-Able und Corenet haben sich zwei von der EU geförderte Projekte unter Beteiligungen der deutschen Textilforschung und namhafte einheimische Hersteller mit dieser Thematik befasst. Ihre Ergebnisse bestärken den vorhergesagten spürbaren Wandel bei Konfektion und Konsumtion. Digitale Vermessungskabinen, im Konfigurator personalisierte Kleidung, nutzergerechte Funktionsintegration und Über- Nacht-Fertigung gleich in Käufernähe könnten die gesamte Wertschöpfungskette bald gravierend verändern.
Haltungsschäden, starkes Übergewicht oder eine besondere Körpergröße, ebenso Rollstuhlfahrer oder Diabetiker mit Fußproblemen haben alle eines gemein: Sie haben besondere Anforderungen hinsichtlich individuell optimierter Bekleidungs-Charakteristika. Gleiches gilt etwa auch für Hochleistungssportler. „Die genannten Gruppen sind in der Regel auf teure Spezialanfertigungen angewiesen oder müssen sich mit den Standard-Passformen mit Änderungen auf Omas Nähmaschine arrangieren“, erläutert Dr.-Ing. Thomas V. Fischer vom Zentrum für Management Research der Deutschen Institute für Textil- und Faserforschung Denkendorf (DITF-MR).
Eine vollständige digitale Prozesskette – vom ersten virtuellen Entwurf bis zum Bedrucken der Stoffe – stellt hier einen alternativen Ansatz dar. Neueste Technologien für die Simulation von Material, Schnitt und Mensch, die Textilgestaltung, Schnittbilderstellung und Druck sind im Verfahren integriert; die Simulation ist direkt mit Folgeprozessen für Mustererstellung und Herstellung verbunden. Die exakten Körpermaße des Trägers werden durch berührungsloses 3D-Bodyscanning gewonnen; hier sind die Textilforscher der Hohenstein Institute in Bönnigheim bei Stuttgart führend.
Mit „Simulate, Print and Go!“, gemeinsam von DITF-MR und den Unternehmen Human Solutions und dem Softwareentwickler ErgoSoft zur Marktreife gebracht, steht erstmalig ein durchgängiger Prozess für virtuelle Produktentwicklung und digitale Produktion zur Verfügung. Was bald Praxis sein könnte, beschreibt das Fashion-Able-Projekt: Mittels CAD-Werkzeugen wurden medizinische Textilien wie beispielsweise Orthesen zur Entlastung bei Haltungsdefekten, Rückenschmerzen oder Gelenkverletzungen punktgenau angepasst und ausgerüstet. Selbst das Prototyping in Form eines virtuellen Passformtests für Spannung und Dehnung der Stützvorrichtung und die Darstellung ihres Abstandes zum Körper des Kunden, war Teil der digitalen Kette. Bisher benutzten die Hersteller hierfür aufwendig konstruierte Prototypen.
Fashion-Able will innovative europäische KMU's mit neuen Technologien für kundenorientiertes Co-Design „versorgen“. Hierzu zählt auch die Entwicklung und nachhaltige Herstellung von individualisierten Produkten, wie dehnbares Leder, 3D-Spacergewebe, neue textile Veredlungen sowie flexible Herstellungsprozesse und -geräte. Neben Kompressions-Orthesen wurden auch Schuhe für Diabetiker sowie Kleidung für Rollstuhlfahrer digital entwickelt; sie werden nun getestet.
Beim Projekt Corenet (Customer-oriented and Eco-friendly Networks for healthy fashionable goods) mit 13 Partnern aus sechs europäischen Ländern orientierte sich das Textildesin an den tatsächlichen gegebenen Körpermaßen. Ebenfalls über webgestütztes „Co-Design“ der Konsumenten entstanden bequeme, passformgerechte Kleidungsstücke mit optimierter Dessinierung für stark Übergewichtige.
Digitale Mode als durchgängiger, auf Nachhaltigkeit ausgerichteter Prozess spart Zeit und erhöht die Gestaltungsqualität. Hersteller können zudem mit kleineren Serien flexibler auf den Markt reagieren. Individualisierte (Medizin-)Textilien sind dabei ein großer Nischenmarkt und verbessern die Lebensqualität der Betroffenen erheblich. Die Zahl der Menschen, die derart angepasste Produkte benötigen, wird auf rund 100 Millionen geschätzt, davon allein 30 Mio. Diabetiker, die besondere Schuhe benötigen. „Durch die Kombination von Technologien wie Informations- und Kommunikationstechnik (IuK), Biomechanik und Produktionstechnologien ist eine wichtige Schnittstelle zwischen Medizin und Textilindustrie entstanden“, betont Dr. Thomas V. Fischer. „So kommt es zu ebenso innovativen wie zielgruppengerechten Produkten fernab jeder Standardware.“
Konkrete Angebote an die Industrie sollen Erfahrungen mit der neuen Technologie sichern, für die Umsetzung wird mit einem Zeitraum von drei bis fünf Jahren gerechnet. „In 10 bis 15 Jahren kleiden sich Mitteleuropäer vielfältiger“, ist der Denkendorfer Forschungsingenieur überzeugt. „Bis zu 20 Prozent werden nachhaltige Materialien und individuell gestaltete Textilien tragen.“