23/02/2021 – Mit Textil UN-Nachhaltigkeitsziele erreichen – Teil 1
Was macht die Pandemie mit uns?
Ingeborg Neumann im Gespräch zum Auftakt unserer diesjährigen Serie „Mit Textil UN-Nachhaltigkeitsziele erreichen“.
textile network: Frau Neumann, die deutsche Industrie hat sich dazu bekannt, die Sustainable Development Goals (SDG) der Vereinten Nationen umzusetzen. Gilt das noch in Pandemie-Zeiten?
Ingeborg Neumann: Wenn Sie sich unsere Position als deutsche Industrie zur Umsetzung der Ziele ansehen, ist diese aktueller denn je. Schon vor der Pandemie waren wir uns einig, dass wir die Nachhaltigkeitsziele nur mit einer innovativen Industrie und digitalen Technologien als Treiber umsetzen können. Das ist nicht mehr und nicht weniger auch die Lehre aus einer Pandemie, die wir vor einem Jahr in diesem Ausmaß nicht für möglich gehalten hätten.
textile network: Führt der wirtschaftliche Druck der Branche mit dramatischen Umsatzverlusten nicht dazu, dass Investitionen in Digitalisierung und Innovationen zurückgestellt werden müssen?
Ingeborg Neumann: Die Krise führt in jedem Fall dazu, dass wir die Diskussion darüber nicht länger schwarz-weiß führen dürfen: auf der einen Seite die Gut-Menschen in Politik und sogenannten Nicht-Regierungsorganisationen und auf der anderen Seite die böse Wirtschaft und die böse Industrie. Das war nie so und bringt uns auch nicht weiter. Wir wurden in den vergangenen Jahren als Branche politisch immer wieder pauschal attackiert, ohne anzuerkennen, dass wir in Deutschland und weltweit für gute Arbeitsplätze und Wertschöpfung sorgen und dabei werthaltige Produkte mit hoher Qualität unter Einhaltung höchster Sozial- und Umweltstandards herstellen. Ich finde das eine beeindruckende Leistung unserer Modemarken und Textilhersteller. Allerdings hatte ich nicht immer den Eindruck, dass das angemessen gewürdigt wird.
textile network: Und dieser Respekt vor der Leistung von Wirtschaft und Industrie wird sich nun einstellen?
Ingeborg Neumann: Die Corona-Pandemie und die Überwindung der wirtschaftlichen Folgen führen zumindest allen Handelnden vor Augen, was Industrie und Wirtschaft leisten. Wir sind als Branche über Nacht eingesprungen, als es keine Corona-Schutzmasken gab. Es sind mittelständische deutsche Unternehmen, die innovative Schutzausrüstung, Luftfilter oder Beatmungsgeräte herstellen. Es ist ein innovatives Biotech-Unternehmen aus Mainz, das den ersten rettenden Impfstoff auf den Markt gebracht hat. Es ist die Wertschöpfung unserer Unternehmen und ihrer engagierten Beschäftigten, die unser Land wirtschaftlich am Laufen hält.
textile network: Viele Unternehmen wissen derzeit nicht, ob sie das Jahr überstehen.
Ingeborg Neumann: Das ist so. Und deshalb ist es richtig und wichtig, dass die Bundesregierung so massiv gegensteuert. Wir dürfen aber nie vergessen, dass wir alles, was jetzt an Hilfen bezahlt wird, nach der Krise als Gesellschaft wieder erwirtschaften müssen.
textile network: Wie groß schätzen Sie den Schaden für die deutsche Textil- und Modeindustrie ein?
Ingeborg Neumann: Das wird davon abhängen, ob es gelingt, den Unternehmen wirksam unter die Arme zu greifen, die über Wochen ihre Läden schließen mussten und über diesen Vertriebskanal nichts mehr verkauft werden konnte. Und es kommt darauf an, ob die öffentliche Beschaffungsstellen Schutzausrüstung auch tatsächlich bei den heimischen Herstellern kaufen. Nicht alles, was hier angekündigt wurde und auch an Rettungspaketen und Übergangshilfen auf den Weg gebracht wurde, kommt auch bei den Betroffenen an. Darüber sind wir ständig mit allen Beteiligten in intensiven Gesprächen. Wenn der Einzelhandel schließen muss, ordert er auch nichts mehr bei uns, der Industrie. Drei Viertel der Einzelhändler sind in akuter Existenznot, diese Situation wird uns als Hersteller noch auf lange Sicht beschäftigten.
textile network: Wann werden wir das Schlimmste überstanden haben?
Ingeborg Neumann: Das kann niemand verlässlich vorhersagen. In einer Umfrage von textil+mode aus Oktober vergangenen Jahres gehen mehr als zwei Drittel der befragten Unternehmen davon aus, dass die Überwindung der Corona-Krise zwischen 18 Monaten und fünf Jahren dauert.
textile network: Wie geben Sie Ihren Mitgliedern die nun notwendige Zuversicht?
Ingeborg Neumann: Uns allen fehlt der Austausch und der persönliche Kontakt. Dennoch habe ich den Eindruck, dass wir alle trotz räumlicher Distanz angesichts der Krise in der Zusammenarbeit noch näher zusammengerückt sind. Wir versuchen unsere Mitgliedsverbände durch unsere Arbeit in Brüssel und Berlin nach Kräften zu unterstützen und bekommen dafür viel positives Feedback. So ist es beispielsweise gelungen, eine Förderung des Bundeswirtschaftsministeriums für die Produktion von innovativer Schutzausrüstung an den Start zu bekommen. Die Bundesregierung hat über 160 Mio. Euro Innovationsförderung bereitgestellt. Anträge können bis zum 01. Juli gestellt werden.
textile network: Wird Gesundheit ein neuer Zukunftsmarkt in Pandemiezeiten?
Ingeborg Neumann: Das war er schon vor der Pandemie. Wir können mit Textilien im Gesundheitsschutz aber nur erfolgreich sein, wenn unsere Lösungen mehr bieten als Einmalmasken und Einweghandschuhe. Als Hochlohnland mit den höchsten Energiepreisen weltweit brauchen unsere Produkte immer einen besonderen Zusatznutzen, um auf dem Weltmarkt bestehen zu können. Unsere Forschung hat hier viele spannende Lösungen. Jetzt geht es darum, die Forschungsergebnisse in noch mehr marktfähige Produkte umzusetzen. Und dafür hilft eine solche Innovationsförderung.
textile network: Also ein Beitrag zur Nachhaltigkeit, ganz im Sinne der SDGs?
Ingeborg Neumann: Ja. Hier bietet die Krise zumindest eine Chance, mit neuen Verfahren, Produkten und Geschäftsmodellen neue Märkte zu erschließen. Gleiches gilt auch für die Bekleidung: Digitalisierung, Individualisierung, Nearshoring, neue Materialien, Kreislaufwirtschaft. Für die Mobilität von morgen: textiler Leichtbau in Flugzeugen einer neuen Generation, in Elektroautos. Bauen von morgen: weniger Ressourcenverbrauch durch weniger Beton und mehr textilen Leichtbau. Filtertechnik für sauberes Wasser und gute Luft: Wir können Green Deal Textil. Dafür werbe ich mit großer Überzeugung und dem Wissen, dass wir hier in Deutschland ausgezeichnete mittelständische Textilunternehmen haben, die international aufgestellt sind, hervorragende Forschungsinstitute und eine Ausbildungslandschaft, die ihresgleichen sucht.
textile network: Und was steht dafür auf Ihrer Wunschliste für die Politik?
Ingeborg Neumann: Wir brauchen als Unternehmen weniger Fesseln und bezahlbare Produktionsbedingungen statt zusätzlicher Steuern, immer höhere Energiepreise und noch mehr Bürokratie. Nur so schaffen wir den Weg aus der Krise und haben die Ressourcen, in Digitalisierung und Nachhaltigkeit zu investieren. Wir sind eine faszinierende Branche, die seit den 1980er Jahren eine beeindruckende Transformation hingelegt hat mit innovativen technischen Textilien, Bekleidungsmarken und Heimtextilien, die auf der ganzen Welt einen hervorragenden Ruf genießen und einer Textilforschung, die zum jedem der 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen mindestens eine Lösung beizutragen hat. So groß die Auswirkungen der Corona-Pandemie auch sein mögen, das alles macht mir Mut, dass wir die Krise meistern.
Frau Neumann, vielen Dank für das Gespräch!