12.10.21 – Radikal bequem – Radikal sexy
DMI-Trends Herbst/Winter 2022/2023
Die Trend-Experten des Deutschen Mode-Instituts (DMI) sind sich einig: Im Herbst/Winter 22/23 wird die Mode immer noch von der Corona-Krise geprägt sein.
Die Pandemie wird die Art, wie wir uns kleiden, viel einschneidender verändert haben, als irgendein anderes globales Ereignis in der Nachkriegsgeschichte.
Der mit der Pandemie verbundene Lockdown hat unser tägliches Leben auf den Kopf gestellt. Und damit natürlich auch die Art, wie wir uns kleiden. Und je länger sich das Ganze hinzieht, je länger unser Alltag von den Einschränkungen des Lockdowns beeinträchtigt ist, desto mehr gewöhnen wir uns an sie und passen uns ihnen an. So wird aus dem Ausnahmezustand am Ende tatsächlich ein neues Normal.
Die Krise als Chance
Mehr noch: Je länger wir unter den Einschränkungen unseres Lebens zu leiden haben, desto mehr versuchen wir, den dadurch ausgelösten Veränderungen etwas Gutes abzugewinnen, so die Prognose des DMI. Wir versuchen, die Krise als Chance zu sehen, als Botschaft, als Lektion. Wir wünschen uns, dass danach alles irgendwie anders ist, besser als vorher, damit all dieses Leid und all diese Entbehrungen nicht umsonst waren. Das heißt: Wenn die Menschen sich durch die Krise verändern, dann geschieht das nicht gegen ihren Willen. Im Gegenteil: Die Menschen verändern sich, weil sie sich verändern wollen.
Das DMI zitiert Laura Bailey von der Vogue, die sagte: „I want to have changed. (Ich will mich verändert haben.) Ich will den Kummer verinnerlicht haben, Kraft gesammelt haben und Flexibilität. Ich will nicht so tun, als wäre nichts geschehen.“
Die DMI Experten sagen: „Eine ganze Reihe von Designern zeigen uns mit ihren Schauen für den kommenden Winter, dass man nach der Krise nicht einfach da weitermachen will, wo man vorher aufgehört hat. Vielmehr gilt es, die Erfahrungen des Lockdowns zu verinnerlichen und verändert daraus hervorzugehen.“
Das, was wir vor allem anderen gelernt haben, ist, allein zu sein. Bis vor einem Jahr galt es noch als Schwäche, introvertiert zu sein. Doch in der Krise erwies sich diese Schwäche plötzlich als überlegene Stärke. In der sozialen Isolation des Lockdowns waren Selbstgenügsamkeit und ein reiches Innenleben überlebenswichtig.
Casualisierung der Bekleidung
Aber selbstverständlich hat die Corona-Krise nicht nur in unserem Inneren Spuren hinterlassen. Sie hat auch die äußeren Umstände unseres Lebens nachhaltig verändert. Ein zentrales Element dieser Veränderungen ist das Homeoffice. In einer Umfrage gaben 68 Prozent aller Arbeitnehmer an, dass sie auch nach der Krise verstärkt von zuhause arbeiten wollen. Studien lassen erkennen, dass sich nach der Krise die Anzahl der Leute, die teilweise von zuhause arbeiten, verdoppelt haben wird. Und die Anzahl der Leute, die permanent im Homeoffice arbeiten, wird sich sogar fast verdreifacht haben.
Und mit dem Homeoffice wird uns auch die Homeoffice-Kleidung erhalten bleiben. Wenn es keine räumliche Trennung mehr gibt zwischen Arbeitsplatz und Wohnung, gibt es auch in unserer Kleidung keine Trennung mehr zwischen Arbeit und Freizeit, öffentlich und privat, drinnen und draußen.
Selbstverständlich hatte die Casualisierung unserer Kleidung schon vor der Pandemie begonnen. Schon 2019 war der Verkauf von High Heels um 12 % gefallen und der von Athleisure um 9 % gestiegen. Aber der Lockdown hat diesen Prozess natürlich enorm beschleunigt und ganz eigene Erfolgsgeschichten geschrieben. So ist 2020 der Umsatz mit Anzügen um 58 % eingebrochen, der Umsatz mit Jogginghosen jedoch um 43 & gestiegen. Und die Gewöhnung tut das ihre dazu, dass uns die bequemen Kleidungsstücke, die wir im Lockdown getragen haben, auch jenseits der Pandemie erhalten bleiben.
Lässig – nicht nachlässig
„Wir haben unzählige Stimmen gesammelt dazu, wie die Leute sich nach dem Lockdown anziehen werden“, heißt es beim DMI. Und wenn sie eines gemeinsam haben, dann ist es die Betonung darauf, dass die neue Lässigkeit keine Nachlässigkeit ist. Um der lässigen Kleidung aus dem Lockdown die nötige Klasse zu verleihen, die es braucht, um sie auch außerhalb der eigenen vier Wände zu tragen, plant nicht nur der Designer Martin Grant, sie mit Klassik zu kombinieren: „Es macht sogar Spaß, sie mit förmlicher Kleidung zu kombinieren.“
Vor allem sollten die Homewear-Elemente aber von sich aus schon eine gewisse Klasse mitbringen, erklärt die Haus-Stylistin der Marke Boden. Für eine Redakteurin vom Guardian ist „smart leggings“ sogar der Überbegriff für den Kleidungsstil, der sich bei ihr im Lockdown entwickelt hat. Ob Homewear auch außerhalb des eigenen Heims akzeptabel ist, ist offenbar auch eine Frage der Qualität.
Es wird also nach der Krise sehr stark darum gehen, Kleidung zu machen, die den Menschen die Bequemlichkeit bietet, an die sie sich im Lockdown gewöhnt haben, die aber trotzdem angezogen wirkt. „Die Materialien sind Stretch, Strick ist gemütlich, in Schuhe kann man einfach reinschlüpfen. Und trotzdem fühlt man sich angezogen“, erklärt Matthew Williams seine neue Kollektion. So können auch ganz neue Kleidungsstücke entstehen, die nach dem Prinzip des Polohemdes funktionieren, das die Eleganz eines Hemdes mit der Bequemlichkeit eines T-Shirts verbindet, genau wie das „Swacket“, das die Eleganz eines Jacketts mit der Bequemlichkeit einer Strickjacke verbindet.
Fantasie und Glamour
Aber all das ist natürlich nur die halbe Wahrheit, weil wir bis hierher nur davon gesprochen haben, wie unsere Tage nach dem Lockdown aussehen werden, und nicht davon, wie unsere Nächte aussehen werden, heißt es beim DMI. Denn nach getaner Arbeit wird sich der gesamte Lebenshunger entladen, der sich im Lockdown aufgestaut hat. „Nachdem es ein Jahr lang nicht möglich war, werden es die Leute nicht erwarten können, wieder Spaß zu haben“, meint Philipp Plein. Auch Jeremy Scott denkt, wenn er an die Zeit nach der Krise denkt, an alles andere als daran, mit bequemer Homewear zuhause zu sitzen.
„Comfort schmomfort!“ („Bequemlichkeit, Dämlichkeit“) kontert er. „Was wir jetzt mehr denn je brauchen, sind Fantasie und Glamour und Sachen, die machen, dass man sich wundervoll fühlt, und ich glaube nicht, dass Jogginghosen das tun.“ Auch Peter Dundas meint: „Es werden sicher wieder extrovertiertere Zeiten kommen, die den Körper und das Körperlich stärker feiern.“
Die neue Sexiness
Wenn die Menschen endlich wieder ausgehen dürfen, wird der Nachholbedarf nach Berührung so groß sein, dass man auch bei den Signalen, die man mit seiner Kleidung aussendet, nicht lange um den heißen Brei herumreden, sondern gleich zur Sache kommen wird. Davon ist auch Tom Ford überzeugt: „Wer möchte nicht krass sein? Besonders nachdem man ein Jahr lang zuhause gefangen war.“ Seine neue Kollektion ist genauso körperbetont und sexy wie seine Kollektionen in den 90er Jahren. Durch den enormen Nachholbedarf nach Körperlichkeit kehrt mit Wucht eine Sexiness in die Mode zurück, von der wir eigentlich geglaubt hatten, dass wir sie gerade hinter uns gelassen hätten. Stefano Gabbana: „In den 90ern hat man sich für andere sexy angezogen. Die jungen Generationen jetzt hingegen ziehen für sich selbst sexy an, weil es ihnen Spaß macht.“
Entweder Tag oder Nacht. Radikal bequem oder radikal sexy. Entweder echt beruhigend oder echt aufregend. Nach dem Lockdown wird es um die beiden Extreme gehen, nicht um die Mitte dazwischen. Die postpandemische Mode wird nicht „von bis“ sein, sondern „entweder oder“.
- Lesen Sie mehr zu den DMI-Trend-Prognosen für Herbst/Winter 2022/2023 ab Ende Oktober auf unserer Website. Schauen Sie einfach regelmäßig vorbei und Sie verpassen nichts!