13.03.15 — read English version
Hohe Herausforderungen
Ärzte und medizinische Assistenten arbeiten täglich mit Röntgenstrahlen. Da ionisierende Strahlung die DNS als Träger des Erbguts schädigen, in hohen Dosen Krebs verursachen und andere Organschäden hervorrufen kann, müssen sich die Menschen schützen, die einer hohen Strahlendosis ausgesetzt sind.
Mediziner und medizinisches Personal, die mit Röntgensystemen arbeiten, tragen daher die schweren Schürzen, die man als Patient vom Zahnarztbesuch kennt. Bis zu fünf Kilogramm wiegt eine solche Ausrüstung. Im Inneren einer Röntgenschürze befinden sich mehrere Lagen eines Stoffgemisches aus einer Trägermasse, beispielsweise Kautschuk, und einem Element von hoher Dichte, das Strahlen absorbiert. Dieser Schutzstoff macht bis zu 80 Prozent des Gewichts aus. Nach wie vor wird als Strahlenschutz überwiegend Blei verwendet.
Gegründet 1969 ging Burlington Medical Supplies als Kleinbetrieb an den Start, der Schürzen zum Schutz vor Röntgenstrahlen instand setzt. Wachstum und Expansion bestimmten das Segment Medizintechnik in den folgenden Dekaden. „Burmed“ ist mitgewachsen. Heute beschäftigt der Spezialist für körpermaßgerechte Röntgenschutzbekleidung mehr als 100 Mitarbeiter am Standort in Newport News in Virginia in den USA. Die Angebotspalette wurde sukzessive erweitert um Schutzbrillen, Handschuhe und einem kompletten Programm an medizinischen Zubehör. Mit dem Wachstum wurde für das Kernprodukt der Bedarf zur Automatisierung der Schnittentwicklung unverzichtbar. „2003 entschieden wir, es ist Zeit, mit der Zeit zu gehen“, erinnert sich Betsy Laster, bei Burmed für Produktionstechnologien verantwortliche Managerin.
„Nach intensiver Angebots-Analyse implementierten wir die AccuMark MTM-Software für die Entwicklung von Bekleidung gemäß individueller Körpermaße und einen Cutter für den Einzellagenzuschnitt.“ Da AccuMark MTM computergestützte Schnittentwicklung von der einfachen Modifikation über die Umsetzung anspruchsvoller, detaillierter Spezifikationen ermöglicht und dies durchgängig bis hin zur Auftragsbearbeitung, konnte der gesamte Produktentwicklungsprozess für Röntgenschutzbekleidung auf einen Tag reduziert werden. Die Körpermaße des Anwenders können nun auch als berührungslos erfasste Scan-Daten direkt in die AccuMark-CAD-Anlage eingespeist werden, da diese Made-to-Measure-Anwendungen, ergo die Maßkonfektion mit all ihren Facetten, ermöglicht.
Zudem erlaubt AccuMark die kundenspezifische Konfiguration. Kommt es zu einer Modifikation im Design, wird auf die im System hinterlegten Informationen zurückgegriffen, diese werden automatisch für den neuen Typ von Schutzschürzen angewandt. „Indem wir mehr und mehr Details und Schnittregeln hinzufügen, wird die Anwendung der CAD-Software zunehmend vereinfacht“, so Betsy Laster. Die eigentlich schützende Substanz der Röntgenschutzbekleidung – Blei, ist ein giftiges Schwermetall. Aus Alltagsprodukten, wie Benzin, Farben und Spielzeug – ist Blei in der Europäischen Union daher weitgehend verschwunden. Krankenhäuser müssen bleihaltige Röntgenschürzen, die sie aussortieren wollen, als Sondermüll entsorgen. Das ist teuer und belastet die Umwelt.
In Strahlenschutzkleidung, die auf Blei ganz oder teilweise verzichtet, verwendet man stattdessen Zinn, Bismut oder Wolfram. Röntgenschutzschürzen, die mit Barrieren aus diesen Metallen hergestellt wurden, bieten zwar mehr Tragekomfort, da sie leichter sind. Doch die Ersatzstoffe sind nicht nur anwenderfreundlich und umweltverträglich. Im Jahr 2005 bemerkte der Wissenschaftler Heinrich Eder, dass sie sich auf möglicherweise gefährliche Art von den bekannten Bleiverbindungen unterschieden. Gemeinsam mit Wissenschaftlern des Helmholtz-Zentrums München prüfte der damalige Strahlenschutzexperte am bayerischen Landesamt für Arbeitsschutz die Abschirmwirkung der neuen Materialien.
Zunächst schienen bleifreie Schürzen Strahlen ebenso gut abzuhalten wie herkömmlicher Schutz aus Blei. Jedoch entdeckten die Forscher, dass einige der Stoffe selbst zu strahlen begannen. Physiker nennen dieses Phänomen Sekundär- oder Fluoreszenzstrahlung. Die bleihaltigen Schutzmaterialien, wie diese auch bei Burmed zum Einsatz kommen, weisen Stärken im Bereich 0,25 mm, 0,35 mm und bis zu 0,50 mm (+/-5%) auf. Neueste Forschungsergebnisse weisen auf einen möglichen alternativen Lösungsansatz durch Einsatz von Composite-Fasern aus Cellulose plus aufgebrachtem Absorber hin.
Ohne Frage bildet die Materialnutzung einen kritischen Faktor für die Profitabilität der fertigenden Unternehmen (die verwendeten Trägermaterialien liegen bei einem Einkaufspreis von rund 110 Euro/Meter). So investierte Burlington Medical Supplies in einen Cutter für den automatisierten Zuschnitt von einzelnen Materiallagen, der mit einem Förderband für den kontinuierlichen Materialtransport ausgestattet ist, der nun im Durchschnitt zehn Stunden pro Arbeitstag im Einsatz ist. Der Materialnutzungsgrad konnte dabei von 54 Prozent auf 90 Prozent erhöht werden.
Gemäß aktueller Untersuchungen im Rahmen eines IGF (Industrielle Gemeinschaftsforschung)-Vorhabens der Forschungsvereinigung Forschungskuratorium Textil e.V., Berlin, veröffentlichen die Hochschule Niederrhein, Krefeld, und das TITK, mit Sitz in Rudolstadt aktuell vielversprechende Ergebnisse: Demnach ist es möglich, mit Composite-Fasern aus Cellulose (hier:Lyocell) und anorganischen Partikeln Gewebe herzustellen, welche die Strahlungsintensität von weichen Röntgenstrahlen deutlich vermindern können. Als Röntgenabsorber hat sich dabei Bariumtitanat (BaTiO3) als die günstigste Schutzkomponente erwiesen. Auswahlkriterien stellten im Rahmen der Untersuchungen die geringe Toxizität, die geringe Reaktivität und ein akzeptabler Beschaffungspreis.
„Zur Erhöhung der Absorptionsleistung können auch mehrlagige Gewebe verwirklicht werden“, heißt es dazu in einer ersten Veröffentlichung. Dabei weisen die Autoren darauf hin, dass für die weitergehende Entwicklung die Erprobung der Gewebe in verschiedenen Messaufbauten zwingend erforderlich ist. Eine Aussage, die sich insbesondere auch auf die die Wirksamkeit im breiteren Röntgenspektrum bis hin zu spektralen Energien von 80 keV (Kilo-Elektronenvolt) bezieht. Ein Schwerpunkt weiterer Forschungsarbeit dürfte auch die Optimierung der textilen Haptik und damit des Tragekomforts für Patienten und medizinisches Personals sein, ferner die Verarbeitbarkeit von Lyocell-Composite-Fasern.
Fraglos bilden die Forschungsergebnisse einen Silberstreif am Horizont mit Blick auf die Verbannung des giftigen Schwermetalls Blei aus dem Anwendungsbereich.
[Margarete H. Gaerner]