30/06/2020 – Neonyt

Corona-Krise: Entschleunigt. Nachhaltig. Solidarisch.

Innovation, Digitalisierung und Nachhaltigkeit erfahren enormen Aufschwung. Doch kann die nachhaltige Modeszene der aktuellen Krise standhalten?

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Auch in der Modebranche zeigt sich die Pandemie als Katalysator für tiefgreifende Veränderungen. © recolution

 
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Die Frühlingskollektion 2020 des Fair Fashion Labels LangerChen konnte noch vor dem Lockdown ausgeliefert werden. Doch die wichtigen Verkaufsmonate März und April sind in diesem Jahr entfallen. © LangerChen

 
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Die Corona-Pandemie hat der Welt einiges vor Augen geführt – vor allem das, was nicht rund läuft. Die Liste reicht vom Gesundheitssystem über Gleichberechtigung bis Globalisierung. Schutzmaßnahmen vor dem Virus wie Social Distancing, Ladenschließungen und Reiseverbote haben Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft dekonstruiert – und Platz für Neues geschaffen.

Auch in der Modebranche zeigt sich die Pandemie als Katalysator für tiefgreifende Veränderungen. Während der Niedergang von Unternehmen beschleunigt wird, die bereits vor der Pandemie Schwierigkeiten hatten, erleben drei Themen einen besonderen Aufschwung: Innovation, Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Aber erst einmal muss die Krise überstanden werden: Kann die nachhaltige Modeszene standhalten?

#fairfashionsolidarity

Im Januar 2020 war das Momentum für Nachhaltigkeit in der Mode ganz deutlich zu spüren: 215 Sustainable Fashion Brands aus 22 Ländern trafen auf der Fachmesse Neonyt auf doppelt so viele Interessierte als im Vorjahr. „Der Wille und die Notwendigkeit, aber auch die Lust zu mehr Nachhaltigkeit ist auf ganzer Linie spürbar“, resümierte Olaf Schmidt, Vice President Textiles & Textile Technologies bei der Messe Frankfurt, die Veranstaltung. Dann kam Corona und stellte die Welt auf den Kopf.

Nachhaltige Modemarken befinden sich in einer Zwickmühle

Einerseits wollen sie ihren Lieferanten weiterhin Abnahmegarantien geben und sie termingerecht bezahlen. Andererseits wollen sie ihre Kunden, sprich Händler, nicht unter Druck setzen, ihre Rechnungen zu bezahlen. Schließlich haben die erst jetzt ihre Läden wieder geöffnet und können damit beginnen, ihre Frühjahr-/Sommerware zu verkaufen – zwei Monate zu spät.

Der Druck steigt und die finanziellen Engpässe bei den Labels selbst häufen sich. Besonders kleinere Unternehmen ohne große Rücklagen leiden unter der Situation. Und auch mittelfristig bleibt die Lage angespannt.

Die Auswirkungen der Krise werden noch bei der Order im Herbst 2020 und Frühjahr 2021 zu spüren sein, ist sich die Branche sicher.

Auch hier gilt: Eine offene Kommunikation ist der Schlüssel, um gemeinsam durch die Krise zu kommen. Ob mit Rohstofflieferanten und Nähereien, mit Produzenten und Händlern, mit Kollegen und Kunden. Nachhaltigkeit bedeutet mehr als Biobaumwolle und recycelter Meeresmüll: Es ist die Überzeugung, durch Maßnahmen entlang der Wertschöpfungskette eine Welt zu schaffen, die für alle besser ist – jetzt und in Zukunft!

Die Neonyt-Aussteller LangerChen und Lanius haben sich deshalb mit dem Fair Fashion Store Loveco und der Online-Plattform Avocadostore zusammengeschlossen und fordern mit dem #fairfashionsolidarity Manifest zu einem gemeinschaftlichen Handeln auf. Die nachhaltige Community rückt noch enger zusammen.

Kerry Bannigan, Gründerin der Conscious Fashion Campaign:

„Mehr als je zuvor müssen wir uns gemeinsam auf die Reise machen und die Welt, wie wir sie kennen, neu definieren. Gemeinsam können wir Lösungen schaffen, Erfolge größer machen und Commitment fördern und damit eine Zukunft gestalten, auf die wir stolz sein können.“

Weltweite Solidarität

Die Corona-Pandemie versetzt die Welt in einen Ausnahmezustand, auch in der Vorstufe. Wenn globalisierte Textillieferketten zusammenbrechen, Aufträge storniert werden oder Vorprodukte fehlen, müssen Fabriken in den Produktionsländern schließen und werden Textilarbeiter entlassen. Häufig kommt es zu Ausbeutungen. Wo weitergearbeitet werden kann, fehlt es meist an Schutzkleidung und Hygienemaßnahmen. Die Bedrohung für Arbeiterinnen und Arbeiter ist eine doppelte: gesundheitlich und finanziell.

In guten wie in schlechten Zeiten: Beispiel LangerChen

Dass keiner in der Krise im Stich gelassen werden muss, beweist das faire Modelabel LangerChen. Auch wenn die Besuche in der Produktionsstätte wegen des anhaltenden Reiseverbots ausfallen müssen, ist man digital im engen Austausch. Die 90 Mitarbeiter in der eigenen Manufaktur in der Nähe von Shanghai konnten nach dem nationalen Lockdown erst teilweise und ab 24. Februar wieder in voller Besetzung im Betrieb arbeiten – natürlich unter Einhaltung aller Sicherheits- und Hygienemaßnahmen von Maskenpflicht bis zweimal täglichem Desinfektionsprogramm.

Philipp Langer, Geschäftsführer von LangerChen:

„Wir sind sehr froh, dass es in unserem Betrieb bisher keine Infektionen gab. Aber natürlich herrscht große Verunsicherung auf dem Markt, wie viel Ware im Herbst wirklich gebraucht wird. Das erfordert in jeder Hinsicht ein individuelles, verständnisvolles Umgehen von Brand und Retailer.“

Die Produktion gehe weiter, von „business as usual“ könne aber nicht die Rede sein: Die bereits vor Corona bestätigten Aufträge für die Herbstkollektion 2020 wurden noch einmal individuell durchgearbeitet. Einige Kunden haben bereits den geschätzten Bedarf angepasst. Eine Erholung ist auch im Frühling 2021 nicht in Sicht, denn der Handel wird seine Überhänge aus den versäumten Verkaufsmonaten mit ins nächste Jahr nehmen.

Fair und transparent

Auch Marion Röttges, Co-CEO Apparel & Communication der Remei, ist davon überzeugt, dass ein solides Wertemodell und eine enge Zusammenarbeit mit allen Partnern die entscheidende Resilienz in Krisen wie dieser bringen. Ein Beispiel für das besondere Geschäftsmodell des Schweizer Pioniers für Bio-Baumwolltextilien: Der All-Holder-Value. Der Ansatz schafft Wert für alle, die am Produktionsprozess beteiligt sind. "Es gibt nur einen gemeinsamen Weg aus der Krise", so Röttges.

Masken statt Meckern

Nach der Schockstarre kam das große Machen: Die nachhaltige Modewelt will sich nicht unterkriegen lassen, will den Stillstand in der Krise nutzen, um sich weiterzuentwickeln.

Webinare werden angeboten, Social-Media-Kanäle optimiert, Online-Shops ausgebaut – oder es wird kurzerhand die komplette Produktion umorganisiert:

Wie einige andere Unternehmen will auch Recolution dabei helfen, den Mangel an Mund-Nasen-Masken zu beheben. Sie haben sich in diesem Zusammenhang etwas ganz Besonderes ausgedacht: Das Jungunternehmen spendet pro zwei verkaufte Masken eine weitere Maske an Obdachlose und Seniorenheime – um dort zu helfen, wo das Virus am meisten trifft.

„Alles wird gut, nur anders“

Dieser Satz steht auf dem Mundschutz aus festem Biobaumwollgewebe. Um den Zusammenhalt sichtbar zu machen, entwickelte das Label außerdem kurzerhand eine ökologische und faire Solidarity Capsule Kollektion.

Jan Thelen, Geschäftsführer der Hamburger Brand Recolution:

„Der Zusammenhalt und die Kreativität der Organic-Fashion-Branche lässt uns auch positiv in die Zukunft blicken. Bewusster Konsum im Einklang mit nachhaltigem Wirtschaften wird nach dieser Krise noch stärker in den Fokus rücken.“

Die nachhaltige Branche beweist, dass die versprochenen Werte gelebt werden: Entschleunigung, Nachhaltigkeit und Solidarität. Und das kommt auch bei den Kunden an. Ein durch die Krise verändertes Werteverständnis beschleunigt den Wandel hin zur Neo-Ökonomie:

Erste Umfragen zeigen, dass 54 Prozent der Verbraucher bereits nachhaltigere Entscheidungen beim Einkaufen treffen und dies wahrscheinlich auch weiterhin tun werden.

Nachhaltig bedeutet zukunftsfähig – und das geht nur, wenn alle zusammenarbeiten.

Lena M. Kaufmann