27.01.22 – Interview mit Holger Max-Lang – Teil 2
Umgestaltung erfordert Mut
Im zweiten Teil des Interviews spricht Yvonne Heinen-Foudeh mit Holger Max-Lang über die aktuellen Herausforderungen für die Branche, auch angesichts der Covid-19-Pandemie.
textile network: Was sind die größten Herausforderungen, vor denen Lectra derzeit steht? Wie können sie bewältigt werden?
Holger Max-Lang: Lectra kleidet Menschen, Autoinnenräume und Möbel ein. Unsere technischen Lösungen sind eine Mischung aus Hardware, Software, Daten und Dienstleistungen. Sie ermöglichen es unseren Kunden, sich in Richtung Industrie 4.0 zu transformieren, der neuen Vision dessen, was die Industrie in Zukunft sein sollte.
Wenn wir uns das Beispiel der On-Demand-Fertigung ansehen, so erfordert die Umsetzung in der Modebranche eine komplexere Technologie als in der Möbelindustrie. In der Modebranche bedeutet dies, dass das Geschäftsmodell der Unternehmen, die Art und Weise, wie Kleidung hergestellt wird, die Lieferkette usw. überarbeitet werden müssen. Die meisten Modeunternehmen wollen dies tun, sind aber nicht dazu in der Lage, weil es eine gründliche Überprüfung ihrer Organisation voraussetzt.
Industrie 4.0 ist eine Mission, die ein schrittweises Vorankommen erfordert. Das erste, was es zu meistern gilt, ist die Beherrschung von Daten. Bis dato erscheinen diese jedoch unscharf, unstrukturiert und die Informationen sind nicht leicht lesbar. Diese Daten erfordern eine Menge KI-Leistung. Die Voraussetzung für Industrie 4.0 ist eindeutig die Digitalisierung der Prozesse. Wir haben unsererseits unsere Strategie seit den frühen 1990er Jahren immer auf Forschung und Entwicklung ausgerichtet. Im Jahr 2015 haben wir uns entschieden, unsere Strategie auf Industrie 4.0 auszurichten, mit einem Ziel: unseren Kunden innovative Lösungen anzubieten. Die Herausforderung für unsere Kunden besteht darin, diese Lösungen zu finanzieren, und die von uns ermöglichten Einsparungen, insbesondere bei Materialien, Stoffen oder Leder helfen dabei, die Investitionen zu finanzieren.
textile network: Was sind aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen, vor denen die Bekleidungsindustrie grosso modo derzeit steht?
Holger Max-Lang: Die Lectra-Märkte, die sich bei Bekleidung auf Modemarken, Einzelhändler und Modehersteller konzentrieren, befinden sich in einem tiefgreifenden Wandel. Überall auf der Welt sehen sich unsere Kunden mit einem veränderten Verbraucherverhalten konfrontiert, da die Käufer neue Erwartungen in Bezug auf Erfahrung und Personalisierung haben. Zudem wird immer mehr Transparenz, Authentizität verlangt und ethisches Engagement von allen Akteuren in der Wertschöpfungskette. Überdies erfahren die Lieferketten mehr oder weniger starke Störeffekte.
Um die Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, müssen Modemarken und -hersteller sich selbst in Frage stellen. Ferner gilt es, das Einkaufserlebnis in den Geschäften wie auch beim digitalen Shoppen zu überdenken und zu verschmelzen. Das, während man ständig neue, immer kreativere Modelle schneller auf den Markt bringt und ihre ökologische Verantwortung unter Beweis stellt. Dabei heißt es gleichzeitig, Lagerbestände, Abschriften und unverkaufte Ware reduzieren. Die digitale Transformation bleibt dabei einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren. Unternehmen werden zunächst alle Prozesse in der Wertschöpfungskette digitalisieren müssen, von der Entstehung bis zum Verkauf, und modulare, intelligente und kommunizierende Produktionslinien einrichten. Dann erst können sie das volle Potenzial der vierten industriellen Revolution ausschöpfen.
textile network: Wie hat sich die Covid-19 auf Ihr Unternehmen ausgewirkt und was haben Sie bisher daraus gelernt?
Holger Max-Lang: Wir haben dafür gesorgt, dass Lectra die Krise unter den bestmöglichen Bedingungen übersteht. Innerhalb von zwei Tagen seinerzeit im März haben wir 80 % der Mitarbeiter auf Heimarbeit umgestellt. Wir überprüften, ob unsere Software und Server funktionierten und ob wir aus der Distanz arbeiten konnten. Wir kürzten die Ausgaben, überwachten die Bareinnahmen und -generierung minutiös – denn einige Kunden nutzten die Krise als Ausrede, um nicht zu zahlen. Während der Pandemie hätten wir uns zurückziehen können, aber als ich mich fragte, wie wir die Krise nutzen könnten, um uns selbst zu stärken, war die Antwort offensichtlich: Wir mussten Gerber zurückfahren. Außerdem ist die Integration im Abschwung einfacher als im normalen Geschäftsbetrieb, wenn man unter dem Druck des Alltags steht. Während der Covid-19-Pandemie konnten wir die Transaktion mit Gerber Technology vollständig per Videokonferenz durchführen und abschließen.
Die Covid-19-Krise hat den industriellen Transformationsprozess insgesamt unterbrochen. Der bleibt dennoch erstrebenswert, weil er hilft, die Produktion rückzuverlagern, umweltschonendere Lösungen aufzeigt, die es ermöglichen, Material zu sparen und unverkaufte Waren zu vermeiden. All dies sind Vorteile, die von den Herstellern angestrebt werden. Und dennoch erfordert die damit einhergehende Umgestaltung der Unternehmen auch eine gewisse Portion Mut.
textile network: Herr Holger Max-Lang, vielen Dank für das aufschlussreiche Gespräch!